Kennen Sie diese Gedanken auch?: Wie konnte ich das nur vergessen? Das hätte mir nicht passieren dürfen. Das hätte ich nicht sagen sollen. Ich habe mich völlig falsch verhalten. Ich hätte daran denken können, dass …. Das hätte ich anders machen sollen …
Wir alle erfahren Situationen in unserem Leben, in denen wir uns wünschten, etwas nicht getan oder gesagt zu haben oder umgekehrt, dass wir etwas getan oder gesagt hätten, was wir aber unterlassen haben. Da gibt es diese Momente in unserem Leben, die uns innerlich zusammenzucken lassen, wenn wir nur daran denken. Wir fühlen uns schuldig für unser Verhalten und wir machen uns noch lange Zeit später massive Selbstvorwürfe.
Wie entstehen Schuldgefühle?
Als Kind haben wir früh gelernt, was „richtig“ und was „falsch“ ist. Schon der Blick oder Ton unserer Eltern, Lehrer oder anderer Bezugspersonen verriet uns blitzschnell, wie wir uns verhalten sollten und wie nicht. Was wir sagen durften und was lieber nicht.
So lernten wir häufig aus Angst vor der negativen Reaktion der Erwachsenen unseren kindlichen Impulsen immer weniger zu folgen oder uns zumindest schuldig zu fühlen, wenn wir es dennoch taten.
Wir waren damals noch zu klein, um die Meinungen unserer Eltern oder anderer Bezugspersonen kritisch zu hinterfragen. So übernahmen wir ihre Gedanken darüber, was „richtig“ und was „falsch“ ist.
Und heute? Heute haben wir diese alten Vorstellungen so verinnerlicht, dass wir sie nicht hinterfragen. Sie wirken als Überzeugung in uns, als Art Vorschrift, mit der wir uns und unser Verhalten immer wieder abgleichen.
Welchen Auswirkungen haben Schuldgefühle und Selbstvorwürfe?
Schuldgefühle und Selbstvorwürfe wirken wie Gift in unserem Inneren und lassen uns nicht mehr los. Auf emotionaler und mentaler Ebene können sie Zwangsvorstellungen, Depressionen, Gefühle des Versagens und der Wertlosigkeit bis hin zu Selbsthass auslösen. Unser Denken kreist dann nur noch um den Gedanken der Schuld. Häufig sind wir besonders empfänglich für Kritik bzw. kritisieren andere besonders hart. Oder wir fühlen uns gereizt und ärgerlich. Vielleicht geben wir aber auch unseren Druck an unsere Familie und/oder unseren Partner weiter.
Auf körperlicher Ebene können Schuldgefühle und Selbstvorwürfe Spannung erzeugen. Dies kann sich in Magen- oder Kopfschmerzen, Muskelverspannungen, Heißhunger nach Essen, Herzstechen oder Atemnot äußern.
Wie können wir uns von unseren Schuldgefühlen lösen?
Schuldgefühle und Selbstvorwürfe binden uns an die Vergangenheit. und verhindern damit, dass wir im Hier & Jetzt neue, bessere Entscheidungen treffen und uns liebevoller, verständnisvoller, offener, ehrlicher etc. verhalten, als wir es vielleicht bisher getan haben.
Die Vergangenheit ist jedoch nur ein Gedanke in uns. Ihre Bedeutung liegt darin, dass sie uns dahin gebracht hat, wo wir heute stehen. Und an diesem Punkt im Hier & Jetzt, genau da, wo wir jetzt stehen, können wir Verantwortung dafür übernehmen, was aus unserer Perspektive nicht richtig war und uns einen Neu-Anfang erlauben.
Lesen Sie hier ein paar Anregungen, wie Sie sich leichter von Ihren Gedanken der Schuld lösen können:
Tipp 1: Sprechen Sie mit einem Menschen, dem Sie vertrauen über Ihre Schuldgefühle.
Manchmal sind wir so in unseren Selbstvorwürfen gefangen, dass wir uns gedanklich im Kreis drehen. Uns gelingt es nicht, die damalige Situation aus einer anderen Perspektive zu betrachten.
Eine Freundin, ein Freund oder ein Therapeut können helfen, neue Sichtweisen zu entwickeln. Meist hilft es schon, seine sorgenvollen Gedanken einmal auszusprechen. Das alleinige Aussprechen kann eine echte Entlastung sein.
Haben Sie Hemmungen (oder Ihnen fehlt eine Vertrauensperson), sich persönlich jemandem anzuvertrauen? Wenden Sie sich an die Telefonseelsorge. Auf der Seite https://www.telefonseelsorge.de/ erfahren Sie, wie Sie telefonisch, per email oder im Chat Unterstützung erhalten können.
Tipp 2: Schreiben Sie Ihre Gedanken auf – Klarheit hilft
Selbstvorwürfe sind kreisende Gedanken, die uns aufs Neue immer wieder zermartern und uns nicht mehr vom Haken lassen. Es hilft, diese Gedanken aufzuschreiben. Dadurch erlangen Sie Klarheit und begeben sich in eine beobachtende Perspektive. Und vielleicht erkennen Sie, dass Sie sich mit dem Wissen von damals gar nicht anders hätten verhalten können. Denken Sie gerne über folgende Fragen nach. Ich habe sie Ihnen hier als PDF zum Druck zum Ausfüllen angehängt. Geben Sie einfach Ihren Vornamen und Ihre Email-Adresse in die freien Felder ein und laden sich im Anschluss die Fragen zum Ausdrucken herunter
Was genau habe ich gesagt oder getan (bzw. nicht gesagt oder getan), weshalb ich jetzt diese Schuld empfinde? Wessen Erwartungen habe ich nicht erfüllt? Kenne ich diese Erwartungen aus meiner Kindheit und Jugend? Möchte ich diesen Erwartungen auch heute noch entsprechen?
Was hätte ich anders sagen sollen oder inwiefern hätte ich anders reagieren oder handeln sollen und warum?
Fragen Sie sich auch, ob Ihre Selbstvorwürfe gänzlich gerechtfertigt sind.
Warum hat es zu diesem Zeitpunkt für mich Sinn gemacht, so zu handeln, wie ich es getan habe?
Wer entscheidet was richtig und was falsch ist?
Inwiefern könnte mein Handeln (oder Nichthandeln) auch (zumindest in Teilen) richtig gewesen sein?
Inwiefern wäre genau das passiert, was geschehen ist?
Inwiefern war mein Verhalten nur auf den ersten Blick negativ? Was hat sich im Nachhinein als gut herausstellt?
Tipp 3: Akzeptieren Sie Ihre „Fehler“
Wogegen wir Widerstand leisten, bleibt an uns haften. Immer wenn wir ein inneres NEIN uns und unserem Verhalten zurufen, halten wir es fest. Um unsere Schuldgefühle loszulassen, hilft es, den inneren Widerstand aufzugeben und unseren vermeintlichen Fehler erst einmal anzunehmen. Fehler gehören zu unserer menschlichen Erfahrung und verbinden uns Menschen miteinander. Ersetzen Sie doch einmal das Wort „Fehler“ durch das Wort „Erfahrung“ und spüren nach, ob sich Ihr Blickwinkel ändert.
Sie können sich auch innerlich sagen:
„Ich habe so gehandelt, weil ich es in diesem Moment für richtig hielt. Ich bedaure, dass mir das passiert ist, aber ich habe mein Bestes gegeben, was mir in diesem Augenblick möglich war“
Tipp 4: Verzeihen Sie sich Ihre „Fehler“
Sie können noch einen Schritt weiter gehen und versuchen, Ihre Fehler nicht nur zu akzeptieren, sondern sie sich auch zu verzeihen. Wenn wir uns unsere Fehler verzeihen, lösen wir uns von dem Vergangenen und wir können wieder nach vorne blicken.
Vielleicht kommen Sie sich bei dieser kleinen Übung anfangs etwas komisch vor. Probieren Sie’s aber mal aus und entscheiden dann, ob sie hilfreich für Sie ist.
Stellen Sie sich vor einen Spiegel und schauen sich in die Augen. Sprechen Sie sich mit Ihrem Vornamen an und sagen Sie laut zu sich: „(Ihr Vorname), ich bin jetzt bereit, Dir zu verzeihen. Du hast getan, was Dir in diesem Moment möglich war.“
Tipp 5: Leisten Sie – wenn möglich – Wiedergutmachung
Wenn Sie das Gefühl haben, Wiedergutmachung leisten zu wollen, dann überlegen Sie, wie sie dies tun können. Entschuldigen Sie sich bei den betroffenen Mitmenschen. Finden Sie hier einen Weg, der für Sie eine nicht allzu große Hürde darstellt. Sollte eine Entschuldigung nicht mehr möglich sein (weil Sie zum Beispiel keinen Kontakt mehr haben oder die Betroffenen bereits verstorben sind) können Sie auch einen Brief schreiben, in dem Sie die Worte der Entschuldigung ausdrücken. Wenn Sie mögen, verbrennen Sie anschließend diesen Brief in einem kleinen Ritual. Dies hilft Ihnen, einen Schlussstrich unter diese schmerzhafte Erfahrung zu ziehen.
Tipp 6: Begegnen Sie sich selbst mit Verständnis
Was würden Sie einer Freundin oder einem Freund raten, die oder der sich aufgrund einer ähnlichen Situation große Vorwürfe macht? Würden Sie sie oder ihn genauso verurteilen wie sich selbst? Bestimmt nicht. Meist gehen wir mit uns selbst viel härter um als mit unseren Mitmenschen. Ich glaube, wir könnten ruhig alle mal etwas netter und verständnisvoller mit uns selbst sein.
Tipp 7: Wiederholen Sie Ihre Gedanken der Selbstakzeptanz und des Verständnisses für Sie selbst
Unser Gehirn braucht Zeit, sich an neue Gedanken zu gewöhnen. Wenn Sie sich lange Zeit selbst verurteilt haben, dann seien Sie geduldig mit dem Einüben neuer freundlicherer Gedanken. Es kann etwas dauern, bis diese neuen Gedanken verinnerlicht sind. Wann immer Sie sich in Ihren Selbstvorwürfen ertappen, sagen Sie sich:
„Ich bin bereit, die Situation so zu akzeptieren, wie sie ist. Ich habe mein Bestes gegeben.“
Machen Sie sich bitte bewusst: Wir können in jedem Moment nur danach handeln, wie wir es zu diesem Augenblick für richtig halten. Mit dem Wissen, der Erfahrung und der Gefühlslage dieses Momentes. Wir können nicht in die Zukunft blicken. Fehler passieren auch weiterhin. Aber wir können – wie gesagt – immer wieder neue, bessere Entscheidungen treffen und uns liebevoller, verständnisvoller, offener, ehrlicher etc. verhalten, als wir es bisher getan haben.
Herzlichst,
Ihre Anna Kötting