Über das Selbst in einer Zeit der Unverbindlichkeit – Ein Gastbeitrag von Julia Schulz
Ich habe vor einigen Jahren zwei Poster erstanden. Sie zeigen die Illustrationen von verschiedenen Käfern und Insekten. Ich habe schwarze Rahmen dazu gekauft und seitdem hängen sie an der Wand in meinem Wohnzimmer.
Neulich habe ich zwei vergessene Posterrollen unter meiner Kommode gefunden und hineingeschaut. Es handelte sich um zwei Ausstellungsplakate der Bundeskunsthalle. Einmal Pixar aus dem Jahr 2013 und dann noch Marina Abramovic, über deren Ausstellungseröffnung ich 2018 einen Artikel veröffentlichte.
Die Rahmen haben hinten kleine Metallhaken. Die kann man aufbiegen, um die Bilder auszutauschen. Ich dachte, vielleicht ist es mal wieder Zeit für etwas Neues. Und jetzt hängen die Plakate von Pixar und Marina an der Wand im Wohnzimmer.
Das ist wirklich sehr praktisch, dass die heutigen Rahmen diese Metalldinger haben, denke ich.
Sie machen es einem so viel leichter, sich für eine Veränderung zu entscheiden
Müsste ich mich wiederum für ein Gemälde entscheiden, so ein gerahmtes, für das ich am Ende mehrere hundert Euro ausgeben soll- meine Güte! Da muss man sich schon sicher sein!
Mit Wechselrahmen geht alles viel leichter. Ich habe die alten Bilder sogar hinter den neuen Bildern gelassen. Da lagern sie sicher und ohne Knicke. Vielleicht will ich sie ja eines Tages wieder zurück.
Vielleicht sogar sehr bald, denke ich plötzlich. Ich finde die Plakate auf einmal sehr düster und meine Wohnzimmerlampe passt überhaupt nicht dazu. Ich überlege, ob ich den Wechsel sofort wieder vollziehen soll. Es dauert nicht lange. Andererseits…
Plötzlich empfinde ich ein tiefes Mitleid mit meinen Bildern, sowohl mit den unsichtbar im Hintergrund verharrenden Käfern, als auch mit Marina und der Pixarzeichnung, die ihre Auswechslung befürchten. Marina grinst. Mach Dir nichts vor, flüstert sie. Es geht Dir doch nicht anders. Ich muss schlucken und denke an den Mann, den ich ein paar Mal traf.
Er sagte Sachen wie: „Wo bist Du all die Jahre gewesen?“ und das klang irgendwie aufregend.
Bevor ich allerdings darüber hätte nachdenken können, ob wir vielleicht wahrhaftig etwas Besonderes füreinander waren, verschwand der Mann wieder von der Bildfläche, von jetzt auf gleich; auf einer Party erklärt mir ein Bekannter, man bezeichne dies als „Ghosting“. Das sei bei Partnerbörsen im Internet ein feststehender Begriff. Ich muss lachen, aber der Bekannte erklärt, in diesen Foren passiere es eben häufig, dass man jemanden kennenlernt, der nett ist und mit dem man sich schreibt, vielleicht trifft, aber dann kommt eben jemand, der noch besser passt. Und da kann man ja nicht jedes Mal ein Trennungsgespräch führen! Da sei es einfacher, sich nicht mehr zu melden. Dann wisse das Gegenüber ja im Grunde auch Bescheid, oder? Klar, sage ich und trinke einen großen Schluck von meinem Wein. Der Anfang sei aber noch viel anstrengender, sagt er. Im Grunde immer dieselben Fragen, auf die man antwortet. Viel Input, ohne zu wissen, ob es sich überhaupt lohnt.
Ich schlage ihm vor, er könne sich ja eine Textdatei anlegen mit den Antworten auf die häufigsten Fragen. Copy and paste. Er überlegt kurz, bevor er meinen Sarkasmus bemerkt und geht. Immerhin nuschelt er etwas zum Abschied.
Elitepartner ist der Wechselrahmen von Beziehungen.
Überall lauert auf einmal die Austauschbarkeit. Im Kleiderschrank vollgestopfte Fächer voll Textil. Gibt es einen Zusammenhang zwischen unserem Konsumverhalten und der Art von Beziehungen, die wir führen? Wertschätzen wir den einen teuren Pullover nicht deutlich mehr, als die fünf Teile, die wir bei ZARA vom Wühltisch gezogen haben? Statt ihre Löcher zu stopfen, wie meine Oma es tat (die übrigens bis zu ihrem Tod verheiratet war) entsorgen wir sie und ersetzen sie durch Neue. Es ist so einfach!
Und beim Blick in den Kühlschrank frage ich mich: Entbindet uns das Mindesthaltbarkeitsdatum auf dem Joghurtbecher nicht jeglicher Verantwortung, etwas genauer anschauen und prüfen zu müssen? Man kauft lieber neu. Wie viele Lebensmittel landen im Müll, weil es auf den ersten Blick so aussieht, als taugen sie nicht mehr? Während auch bloß ein sanftes Schnuppern, der vorsichtige Test mit der Zungenspitze offenbart hätte, dass alles völlig in Ordnung ist.
Geben wir Beziehungen zu schnell auf, weil wir sie scheinbar leicht ersetzen können?
Befristete Arbeitsverträge reiben uns unsere Austauschbarkeit tagtäglich unter die Nase. Die Sorge davor, nicht gut genug zu sein, führt dazu, dass wir uns ständig mit anderen vergleichen und gleichzeitig alles tun, um nicht negativ aufzufallen.
Werden wir dann aber nicht austauschbar dadurch, dass wir uns vor der Austauschbarkeit fürchten?
Ich starre auf meine Wand mit den Wechselrahmen und mir ist schwer ums Herz.
Es klopft an der Tür und meine Kinder bringen mir ein Glas frisch gepressten Orangensaft. Der Testlauf für das Muttertagsfrühstück, sagt mein Sohn. Danke, sage ich.
Marina zwinkert mir zu von ihrem Plakat aus. Es gibt sie, die Momente, in denen wir wirklich gemeint sind. Und das sind die Momente, in denen wir tatsächlich wir selbst sein dürfen. Ohne geprüft zu werden, ohne die Angst davor, entsorgt zu werden, wenn wir etwas Falsches sagen.
Ich werde eine Lösung finden müssen, für meine Wand. Vielleicht ist es an der Zeit, sich für ein Bild zu entscheiden und es rahmen zu lassen. Zunächst einmal probiere ich aber den Erdbeerjoghurt, der Anfang März abgelaufen ist. Es ist ein bisschen aufregend.
©Julia Schulz 2019
Julia Schulz ist freie Autorin, Texterin und Illustratorin aus Bonn. Seit einigen Monaten begleiten ihre Zeichnungen von „Frau und Hund“ diesen Blog.